Das Siegerprojekt Anna + Otto des Architekturbüros Ernst Niklaus Fausch Partner (Visualisierung: PD)

Ein fataler, folgenreicher Fehlentscheid

In der allerletzten Sitzung seiner vierjährigen Amtsperiode «erledigte» der (alte) Gemeinderat noch schnell ein liegengebliebenes Problem: Er erklärte die Einzelinitiative von Hansueli Zürcher auf «Änderung  des öffentlichen Gestaltungsplans Bahnhofstrasse» für ungültig. Die Konsequenzen dieses Entscheids werden dem neuen Gemeinderat noch etliches Kopfzerbrechen bereiten.

(Aktualisierung vom 8. Juli am Ende des Textes)

Die Einzelinitiative von Hansueli Zürcher und rund 100 Mitunterzeichnerinnen und -unterzeichern richtet sich in erster Linie gegen das Projekt der SBB, beim Bahnhof Erlenbach einen  5stöckigen, fast 90 Meter langen Wohn-Klotz aufzustellen. Obwohl die Befürworter des Projekts die filigrane Fassadengestaltung und andere wunderbare Eigenschaften des Baus lobten, hielt sich die Begeisterung  der Erlenbacher Bevölkerung schon bei der Präsentation des Siegerprojekts vor einem Jahr in eher engen Grenzen. Zu Recht, denn wohl niemand, auch nicht der glühendste Befürworter, wird behaupten wollen, dass das SBB-Ungetüm zu einem architektonisches Bijou im Dorfzentrum werden könnte. Denn: Jedes Gebäude korrespondiert zwangsläufig mit seiner Umgebung, und es redet in seiner architektonischen Sprache zu uns. Entweder sagt es: Ich füge mich in die bestehende Umgebung, etwa in ein historisch gewachsenes Dorfbild ein. Oder es argumentiert mit den Ellenbogen: Platz da! Jetzt komm ich! Ich bin der Platzhirsch hier, ich dominiere, beherrsche  euch und die ganze Umgebung.

Die Argumente des Gemeinderates

Den Entscheid, die Initiative für ungültig zu erklären, begründet der Gemeinderat in der Hauptsache  mit folgenden Argumenten:

  • Der von der Gemeindeversammlung genehmigte Gestaltungsplan «Bahnhofstrasse» aus dem Jahr 2013 dürfe laut Raumplanungsgesetz (RPG) innerhalb eines Planungshorizonts von 15 Jahren nur abgeändert werden, wenn sich die «tatsächlichen Verhältnisse erheblich geändert haben». Es seien «in den vergangenen neun Jahren aber keine wesentlichen neuen Erkenntnisse aufgetaucht, die eine Anpassung des Gestaltungsplans erlauben würden».
  • Mit der von der Initiative geforderten Beschränkung auf vier oberirdische Geschosse und eine maximale Baulänge von 50 Metern würde das Bahnhofsgebiet schlechter gestellt als die umliegenden Gebäude; dort sind vier Vollgeschosse plus ein Attikageschoss sowie eine unbeschränkte Baulänge erlaubt.
  • Wichtig, so der Gemeinderat, sind gemäss dem RPG vor allem die Rechtssicherheit und die sogenannte Planbeständigkeit; der Bauherr muss damit rechnen können, dass der Gestaltungsplan nicht innerhalb des Planungshorizonts von 15 Jahren (im Fall der SBB-Überbauung also bis 2028) nicht plötzlich über den Haufen geworfen wird.

Das Bewusstsein hat sich geändert

Hat der Gemeinderat also recht, die Initiative von Hansueli Zürcher für ungültig zu erklären? Die Antwort ist wohl: Ein bisschen Ja und ganz viel Nein. Ja, wenn es denn ausschliesslich um Planbeständigkeit und Rechtssicherheit ginge. Aber: Nein, wenn andere im RPG angeführte Kriterien mitberücksichtigt werden.

Denn: Gestaltungspläne dürfen abgeändert werden, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse erheblich geändert haben. Oder wesentlich neue Erkenntnisse aufgetaucht sind. Beides ist der Fall: Durch den riesigen Migros-Wohnbaukomplex in unmittelbarer Nähe ändert sich Vieles im Umkreis des Bahnhofs; die ZKB und der SBB-Schalter haben geschlossen, die Bahnhofstrasse ist in den vergangenen Jahren noch mehr zu einem reinen Parkplatz verödet; die wenigen noch bestehenden Geschäfte haben es immer schwerer und neue Läden haben an der Bahnhofstrasse kaum noch Überlebenschancen. Zugegeben: Das sind schleichende, einzelne und zum Teil erst künftige Veränderungen, in ihrer Gesamtheit aber werden sie das Gebiet um den Bahnhof massiv verändern.

Vor allem aber hat Hansueli Zürcher recht, wenn er in der Zürichsee-Zeitung meint: «In den letzten Jahren hat sich ganz gewaltig etwas geändert – und zwar in den Köpfen der Menschen.» Von der sichtbaren schleichenden Verschandelung der Gemeinde durch hässliche Bauten über die permanente Zunahme des Privatverkehrs bis hin zu den spürbaren Veränderungen durch die Umwelt- und Klimakrise – das Bewusstsein der  Menschen verändert sich derzeit radikal. Und damit auch das Bewusstsein, dass man unseren Dörfern noch mehr Sorge tragen muss, dass man die (architektonischen) Dorfbilder nicht bloss auf dem Papier, sondern tatsächlich schützen muss, dass man nicht nur reden, sondern auch handeln muss.

Aus Fehlern muss man lernen können, bevor es zu spät ist

Kurz, es sind in der Tat neue Erkenntnisse aufgetaucht, vor allem aber diese eine: Mit dem bestehenden Gestaltungsplan werden diese Zielen nicht erreicht. Das heisst nach den Regeln des gesunden Menschenverstandes: Wenn etwas nicht funktioniert, muss man es ändern, bevor es zu spät ist. Das setzt aber voraus, dass man überhaupt darüber reden, diskutieren und streiten kann. Mit der Ungültigerklärung der Initiative Zürcher wird genau diese dringend notwendige Diskussion abgeklemmt. Oder auf den Rechtsweg geschickt. Dort aber reden und diskutieren nicht die Erlenbacherinnen und Erlenbacher über die Zukunft ihres Dorfes, sondern Anwälte und Richter, ob entsprechende Gesetze und Verordnungen eingehalten worden sind oder nicht.

Christian Rentsch

Eine unangenehme Hinterlassenschaft

Wie die Zürichsee-Zeitung vom 8. Juli schreibt, haben sowohl Hansueli Zürcher, die Erlenbacher Architektin Christiane Brasseur sowie eine weitere Person beim Bezirksrat Rekurs gegen den Entscheid des Gemeinderates eingereicht.

Für Christiane Brasseur besteht laut Zürichsee-Zeitung keine gesetzliche Grundlage für die Ungültigerklärung der Initiative. Im Gegensatz zum Gemeinderat, der sich auf die Artikel 15 Absatz 1 und Artikel 21 Absatz 2 des Eidgenössischen Raumplanungsgesetzes beruft. Aber auch für die Architektin ist klar: «Der Gemeinderat», lässt sie sich zitieren, «fürchtet sich (…) ganz offensichtlich vor dem Verdikt des Volkes und möchte ihm deshalb dieses demokratische Recht vorenthalten.»

Der neu zusammengesetzte Gemeinderat muss jetzt innerhalb der kommenden Woche zu den Rekursen Stellung nehmen. Danach wird der Bezirksrat entscheiden, ob die Initiative gültig ist und darüber an einer Gemeindeversammlung diskutiert und abgestimmt werden darf. Wann der Bezirksrat seinen Entscheid bekannt gibt, kann die Präsidentin des Bezirksrats Patrizia Merotto laut Zürichsee-Zeitung nicht sagen.

Die neuen Gemeinderätinnen und Gemeinderäte sind jedenfalls nicht zu beneiden. sie müssen sich gleich zu Beginn ihrer Amtszeit mit einer höchst umstrittenen Sache befassen, die ihnen der frühere Gemeinderat noch in letzter Minute «eingebrockt» hat.