Darum geht es in erster Linie: Der 90 Meter lange fünfstöckige SBB-Riegel. Verhindert kann er nur werden, wenn die Initiative Brasseur an der kommenden Gemeindeversammlung angenommen wird. (Fotomontage)

Zur Gemeindeversammlung vom 19. Juni 2023

SBB-Koloss:  Ja oder Nein?

Die kommende Gemeindeversammlung wird Dorfgeschichte schreiben. Mit der Abstimmung über die Einzelinitiative von Christiane Brasseur entscheidet sich, wie das Dorfzentrum künftig aussehen wird. Die Alternativen: Verdichtetes Bauen und SBB-Koloss oder sanfte Weiterentwicklung des historisch gewachsenen Dorfkerns. Die Mehrheit des Gemeinderates lehnt die Initiative Brasseur ab. Wir sagen, warum man der Initiative zustimmen sollte.

Wer die Weisung des Gemeinderates zur Einzelinitiative von Christiane Brasseur lesen will, braucht einen eisernen Durchhaltewillen und eine fast schon masochistische Bereitschaft, sich durch einen kaum durchschaubaren Dschungel von widersprüchlichen Argumenten und unverständlichen Paragrafen zu kämpfen. Vieles davon ist pures Juristenfutter, anderes sind Ermessensfragen, die erst noch geklärt werden müssen. Worum also geht es?

Ein kurzer Rückblick

Im März 2022 reichte Hansueli Zürcher eine Einzelinitiative ein, die darauf abzielte, das Projekt eines monströs dimensionierten Bahnhof-Neubau der SBB zu verhindern: Die laut dem gültigen Gestaltungsplan zulässige Gebäudelänge soll von 90 auf 50 Meter, die Gebäudehöhe von fünf auf vier Geschosse reduziert werden.

Der damalige Gemeinderat versuchte, eine Abstimmung über die Initiative zu vermeiden, indem er sie als ungültig erklärte; aufgrund einer Einsprache der Erlenbacher Architektin Christiane Brasseur entschied das Verwaltungsgericht, dass die Initiative gültig sei und dem Volk vorgelegt werden müsse.

Im September vorigen Jahre reichte die Architektin Christiane Brasseur selber eine weitere Einzelinitiative ein, die beträchtlich weiter geht als die Initiative Zürcher: Sie verlangt, dass der ganze Gestaltungsplans «Bahnhofstrasse» aus dem Jahr 2012 aufgehoben und die für dieses Gebiet vorher gültige Bau- und Zonenordnung aus dem Jahr 1995 wieder in Kraft gesetzt wird. Der (inzwischen neue) Gemeinderat versuchte wiederum, die Initiative für ungültig zu erklären; er wurde, diesmal bereits vom Bezirksrat, erneut zurückgepfiffen.

In der Folge zog Hansueli Zürcher seine Initiative zugunsten derjenigen von Christiane Brasseur zurück.  An der kommenden Gemeindeversammlung wird also bloss über die Einzelinitiative Brasseur abgestimmt werden. Der Gemeinderat empfiehlt der Gemeindeversammlung, die Brasseur-Initiative abzulehnen.

Worum es geht?

Der Rückzug der Initiative Zürcher zugunsten der Initiative Brasseur ist ein riskantes Manöver, denn: Die Initiative Zürcher hätte aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer grossen Zustimmung rechnen können – ein grosser Teil der Erlenbacher Bevölkerung lehnt einen überdimensionierten SBB-Koloss mitten im Dorfzentrum ab. Die Initiative Brasseur aber verlangt weit mehr als bloss eine zumindest formal relativ geringfügige Änderung des bestehenden Gestaltungsplans: Sie fordert  die Aufhebung des gesamten Gestaltungsplan «Bahnhof». Das macht die Initiative bei weitem angreifbarer, denn sie wirft eine ganze Reihe von planerischen und juristischen Problemen auf, von denen noch niemand so richtig weiss, wie sie dereinst gelöst werden.

Zum Beispiel Planbeständigkeit und Rechtsicherheit: Grundeigentümer, die einen Neu- oder Umbau planen, müssen darauf vertrauen können, dass die Bauordnung nicht während der Planung plötzlich abgeändert wird. Das bedeutet zwar nicht, dass Bauordnungen und Gestaltungspläne nie mehr abgeändert werden dürfen; umstritten ist allerdings, wie lang diese sogenannte Planbeständigkeit mindestens vorhalten muss – fünf, zehn oder fünfzehn Jahre? Und unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen ein Gestaltungsplan revidiert werden darf. Der Grundsatz, dass sich «die Verhältnisse wesentlich geändert haben» müssen, lässt einen grossen Ermessensspielraum zu. Und: Erheben Grundeigentümer Einsprache, werden Gerichte dies entscheiden müssen.

Zum Beispiel Verdichtung: Ein Ziel des aktuell gültigen Gestaltungsplan von 2012 ist eine «bauliche Verdichtung» und «Nutzungsdurchmischung». Die Frage ist berechtigt, ob eine weitere Verdichtung in der unmittelbaren Umgebung des Bahnhofs tatsächlich noch sinnvoll ist. Kaum 50 Meter vom Bahnhof entfernt werden in der geplanten Migros-Überbauung 29 Wohnungen entstehen. Zusammen mit den im SBB-Neubau vorgesehenen 36 Wohnungen ergäbe das allein schon in Bahnhofnähe eine «Verdichtung» um insgesamt 65 Wohnungen. Und «verdichtet» wird auch im Raum um die ehemalige Schreinerei Riethmann. Und, nur 200 Meter vom Bahnhof entfernt, in den vier Mehrfamilienhäuser der Zürich Versicherungen im Gehren um über 30 weitere neue Wohnungen.

Erlaubt sein muss auch die Frage, wie denn eine bessere «Nutzungsdurchmischung» bewerkstelligt werden soll, wenn schon die wenigen an der Bahnhofstrasse verbliebenen Läden kaum ein Auskommen haben. Schöne Ideen und Vorsätze in Planungskonzepten sind das Eine, erweisen sie sich als unrealistisch, sollten sie neu überdacht werden ..

Problem Bahnhofstrasse: Auf der einst als mehr oder minder verkehrsberuhigt geplanten Strasse drängelt sich heute von Jahr zu Jahr mehr Verkehr.  Aber obwohl noch mehr Verdichtung noch mehr Verkehr bedeutet, findet der Gemeinderat, dass die Bahnhofstrasse nicht schon ausgelastet sei. Es darf seiner Meinung nach offenbar ruhig noch äs bitzeli meh sein.

Zum Beispiel Verkehr: Der bestehende Gestaltungsplan «Bahnhof» ist Teil eines «Gesamtpakets», das unter anderem auch den kommunalen Verkehrsplan und die Bereitstellung öffentlicher und privater Parkplätze umfasst. Wird ein Gestaltungsplan revidiert oder aufgehoben, müssen diese Zusammenhänge neu abgeklärt und angepasst werden. Das gilt insbesondere für das Gebiet rund um den Verkehrsknoten Bahnhof. Durch die rapide Bevölkerungszunahme in den letzten Jahrzehnten mit ihren Folgen – allein die Zahl der Privatfahrzeuge der Erlenbacher Bevölkerung hat in den vergangenen 20 Jahren um rund 600 auf 3’250 zugenommen -, die Verdichtung des S-Bahn-Taktfahrplans und der Ortsbus haben die Verkehrssituation im Dorfzentrum massiv verschlechtert. Die einstige Idee einer einigermassen verkehrsberuhigten Bahnhofstrasse hat sich, auch wenn der Gemeinderat das anders sieht, als Illusion erwiesen: Die Bahnhofstrasse ist heute kaum mehr als ein langgestreckter Parkplatz.

Zwar ist, wie Brasseur in der Stellungnahme zu ihrer Initiative aufzeigt, die Verkehrserschliessung im bisher gültigen Gestaltungsplan höchst unzureichend gelöst, aber das Problem stellt sich auch dann, wenn der Gestaltungsplan als Ganzes aufgehoben wird. Der Gemeinderat hat dazu im Hinblick auf die geplante Teilrevision der BZO einige Studien machen lassen, etwa zur «Parkierungsregulierung im Bahnhofgebiet» (2022); wird die Initiative Brasseur angenommen, muss er aber vorwärtsmachen und binnen eines Jahres eine ausgearbeitete Lösung auf den Tisch legen.

Wie geht es weiter?

Entscheidend ist dies: Mit der Annahme der Initiative Brasseur wird der geltende Gestaltungeplan nicht per sofort aufgehoben. Da die Initiative juristisch «bloss» als «allgemeine Anregung» gilt, hat der Gemeinderat 12 Monate Zeit, um eine konkrete Umsetzungsvorlage auszuarbeiten. Sie muss zwar den Intentionen der Initiative entsprechen, dem Gemeinderat bleibt aber eine «gewisse Gestaltungskompetenz», kurz: ein Ermessensspielraum. Wie er diesen nutzen würde, ist ungewiss.

Die konkret ausgearbeitete Vorlage muss innerhalb dieses einen  Jahres öffentlich aufgelegt (mit Einspruchsmöglichkeiten) und von der kantonalen Baudirektion geprüft, und innerhalb von 18 Monaten ab der Annahme der Initiative der Gemeindeversammlung vorgelegt werden.

Warum man die Initiative annehmen muss

Wird die Initiative Brasseur an der kommenden Gemeindeversammlung abgelehnt, bleibt alles beim Alten; die SBB wird ihr Projekt weiter vorantreiben und gemäss ihren eigenen Angaben im kommenden Jahr das Richtprojekt und den Detailgestaltungsplan genehmigen lassen. Der Bau des SBB-Riegels ist dann nur noch eine Frage der Zeit.. Wer den SBB-Koloss verhindern will, muss also zwangsläufig der Initiative Brasseur zustimmen. Selbst dann, wenn er oder sie nicht unbedingt dafür ist, gleich den Gestaltungsplans «Bahnhof» als Ganzes aufzuheben.

Christian Rentsch

PS. Es ist übrigens nicht verboten, sondern sogar durchaus erwünscht, diesen Beitrag zu kommentieren, denn genau dafür ist das Forum Erlenbach eigentlich gedacht: als Diskussionsforum, als virtueller Stammtisch. Nicht veröffentlich werden lediglich beleidigende oder anonyme Kommentare.

Was sagt die Initiantin Christiane Brasseur?

Zu den im Beitrag von Christian Rentsch aufgeworfenen Fragen nehme ich im Folgenden gerne Stellung.

Eine weitergehende Initiative als die Initiative Zürcher war unumgänglich

Visualisierung mit zwei 50 m langen 3-geschossigen Gebäuden, welche den gemäss Gestaltungsplan vorgeschriebenem Minimalabstand von 8 m aufweisen. Zum Vergleich: Das bestehende SBB-Aufnahmegebäude weist eine Höhe von 9.30 m auf; demgegenüber weist die Terrasse vor der zurückversetzten Attika die von 14.70 m um ein Geschoss herabgesetzte Höhe von 11.70 m auf.

Die Visualisierung zeigt eindrücklich, was auf dem SBB-Areal auch bei Annahme der Initiative Zürcher noch hätte entstehen können. Der Gestaltungsplan Bahnhofstrasse erlaubt dort nämlich nicht nur eine leicht grössere Gebäudehöhe (14.70 m statt 14.00 m), sondern auch eine massiv grössere Gebäudelänge (unbeschränkt statt 40 m), eine ebenso massiv grössere Ausnützung (110% statt 70%) sowie einen massiv herabgesetzten Gebäudeabstand (8 m statt 14 m). Wie die Visualisierung zeigt, erlaubt diese massive Herabsetzung es nicht mehr, zwischen den Gebäuden durchzusehen. Statt mit einem 90 m langen Koloss würden die obenliegenden Quartiere also mit einem gefühlt 108 m langen Ungetüm konfrontiert! Dass dieses nun ein Geschoss weniger aufweisen würde, würde die Sache auch nicht erträglicher gestalten. Eine vollständige Aufhebung des Gestaltungsplans mit all seinen schädlichen Bestimmungen war und ist also unbedingt angesagt.

Ersatzforderungen der SBB an die Gemeinde sind nicht zu erwarten

Der Bezirksrat hat am 23. Januar 2023 die Initiative Brasseur für gültig erklärt und im entsprechenden Beschluss festgehalten, dass die SBB keine ernsthaften Bestrebungen in Hinblick auf eine Bautätigkeit vorgenommen habe. In diesem Licht ist die Behauptung des Gemeinderats im Beleuchtenden Bericht zur Gemeindeversammlung, wonach «Ersatzforderungen der SBB an die Gemeinde […] nicht ausgeschlossen» werden können, eine unbewiesene Behauptung. Die Rechnungsprüfungskommission der Gemeinde Erlenbach (RPK) hat denn auch in ihrem Bericht festgehalten, dass dieses Geschäft (Aufhebung Gestaltungsplan und Einzelinitiative) keine finanziellen Auswirkungen für die Gemeinde Erlenbach hat, weshalb sie darauf verzichtete, eine Stellungnahme abzugeben. Damit kann getrost davon ausgegangen werden, dass eine Annahme der Einzelinitiative die Gemeinde Erlenbach kein Geld kosten wird.

Der Gestaltungsplan verhindert eine bauliche Verdichtung im Gebiet «Sigst»

Der VVE, der Verkehrs- und Verschönerungsverein Erlenbach hat zwei Visualisierungen erstellt, welche die unterschiedlichen Auswirkungen des Gestaltungsplans auf die Bereiche um den Bahnhof und auf das angrenzende «Sigst»-Quartier aufzeigen. Zudem wird dort aufgezeigt, wie sich die beiden Bereiche bei Gutheissung der Initiative beispielsweise entwickeln könnten. Sie finden die Visualisierungen unter www.vve-erlenbach.ch

Bei einer Annahme der Initiative gilt die sogenannte «negative Voranwendung»

Bei einer Annahme der Initiative wird per sofort weder der Gestaltungsplan aufgehoben, noch die früheren Bestimmungen gemäss Bau- und Zonenordnung 1995, was die Initiative fordert, wieder in Kraft gesetzt. Für beide Regelwerke würde allerdings die «negative Voranwendung» gelten. Das heisst, von zwei sich widersprechenden Bestimmungen gilt immer diejenige, welche weniger erlaubt. Nachdem der Gestaltungsplan fast nur Erleichterungen vorsieht, würden de facto wieder die Bestimmungen aus dem Jahr 1995 gelten. Dies bis zu dem Zeitpunkt, da der Gemeinderat Erlenbach einen neuen Vorschlag der Gemeindeversammlung unterbreitet, wie Bahnhof und Sigst überbaut werden sollen.

Christiane Brasseur, 7. Juni 2023