Am 19. November stimmen die Erlenbacher Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zum zweiten Mal über die Einzelinitiative zur «Aufhebung des öffentlichen Gestaltungsplans Bahnhofstrasse» ab. Es ist vermutlich die wichtigste Abstimmung seit vielen Jahren, denn sie entscheidet über die künftige Entwicklung des Dorfzentrum in den kommenden Jahrzehnten.

Die geplante SBB- Überbauung, der sogenannte SBB-Koloss, würde allein schon durch seine Grösse die ganze Umgebung des Bahnhofs völlig dominieren. Der rund 90 Meter lange, fünfstöckige Riegel fügt sich nicht in das historisch gewachsene Dorfbild ein; er passt nicht im Geringsten zur kleinteiligen Architektur des heutigen Dorfkerns und würde den dörflichen Charakter von Erlenbach weitgehend zerstören.

Nach dem Rückzug der Einzelinitiative von Hansueli Zürcher kann der SBB-Koloss in seiner geplanten Grösse nur durch ein Ja zur jetzt vorliegenden Initiative verhindert werden. Sie fordert, dass der heute geltende öffentliche Gestaltungsplan «Bahnhofstrasse» aufgehoben wird.

Ziel des geltenden öffentlichen Gestaltungsplans Bahnhof ist die bauliche Verdichtung und «Nutzungsdurchmischung» im Dorfzentrum, im Klartext: Mehr Wohnungen, mehr Läden, mehr Büros. Das aber heisst zwangsläufig auch: Mehr private Parkplätze für die Anwohner und mehr öffentliche Parkplätze für die Kunden dieser neuen Geschäfte. Was wiederum heisst: Der Verkehr im Dorfzentrum wird massiv zunehmen.

Kurz: Der Gestaltungsplan schafft mehr Probleme als er löst.

Problem 1: Bauliche Verdichtung

Die bauliche Verdichtung in den sogenannten Zentrumsgebieten ist eine Vorgabe des Kantonalen Richtplans. Allerdings: Das Zentrumsgebiet von Erlenbach wird in den kommenden Jahren ohnehin markant verdichtet. In der Migros-Überbauung, kaum 50 Meter vom Bahnhof entfernt, entstehen neue 29 Wohnungen, im SBB-Koloss sind weitere 36 Wohnungen geplant. Selbst wenn diese Anzahl aufgrund der Abstimmung verkleinert wird, werden es insgesamt immer noch rund 50 Wohnungen mehr sein. Wird die Initiative dagegen abgelehnt, wird die Verdichtung auch im übrigen Dorfzentrum über kurz oder lang weiter zunehmen. Ein lebendiges, wohnliches Dorfzentrum verträgt aber keine masslose Verdichtung.

Zudem muss man sich auch fragen, wie denn eine bessere «Nutzungsdurchmischung» bewerkstelligt werden soll, wenn schon die wenigen an der Bahnhofstrasse verbliebenen Läden kaum ein Auskommen haben.

Problem 2: Der Verkehr auf der Bahnhofstrasse

Einst als verkehrsberuhigte Strasse geplant, nimmt der Verkehr auf der Bahnhofstrasse heute von Jahr zu Jahr noch mehr zu.

Durch die Bevölkerungszunahme in den letzten Jahrzehnten hat sich die Verkehrssituation im Dorfzentrum massiv verschlechtert. Allein die Zahl der Privatfahrzeuge der Erlenbacher Bevölkerung hat in den vergangenen 20 Jahren um rund 600 auf 3’250 zugenommen -, dazu kommt die Verdichtung des S-Bahn-Taktfahrplans und der Ortsbus. Die Idee einer einigermassen verkehrsberuhigten Bahnhofstrasse hat sich, auch wenn der Gemeinderat das beschönigend ganz anders sieht, als Illusion erwiesen: Die Bahnhofstrasse ist heute kaum mehr als ein langgestreckter Parkplatz, auf dem in den Stosszeiten ein riesiges Gedränge herrscht.

Problem 3: Die Erschliessungsstrasse Sigst

Die im Gestaltungsplan vorgesehene rückwärtige Erschliessung des Teilgebiets Sigst Nord über eine steile Strasse von der Lerchenbergstrasse her war schon ein Murcks, als der Plan vor elf Jahren von der Gemeindeversammlung angenommen wurde. Geplant war damals der Abriss des sogenannten Dienerhauses, des ehemaligen Brockenhauses.

Inzwischen aber hat die Gemeinde das Dienerhaus unter Schutz gestellt und im Juni 2021 einen Sanierungskredit von 5.3 Millionen Franken gesprochen. Da das Dienerhaus aber zum Teil fast vier Meter in die geplante «rückwärtige» Erschliessungstrasse ragt, wird diese dort nur noch etwas mehr als 3 Meter breit. Der Gemeinderat hält mangels Alternativen an dieser Lösung fest, obwohl diese in der Realität kaum umsetzbar ist – irgendwo müssen ja auch die Velofahrer und Fussgänger durch diesen Engpass geschleust werden.

Problem 4: Der Verkehrsknotenpunkt SBB- und Migros-Tiefgaragen

Unter der geplanten SBB-Überbauung ist eine zweistöckige Tiefgarage mit 111 Abstellpätzen geplant, einerseits für die Bewohner der 36 neuen Wohnungen und andererseits als Ersatz für die heutige P+R-Anlage. Fast direkt vis-à-vis der Ein- und Ausfahrt für dieses Parkhaus liegt auch die Ein- und Ausfahrt der mehrstöckigen Parkgarage für 153 Fahrzeuge für die Migros-, Denner- und Coop-Kunden und die Bewohnerinnen und Bewohner der beiden Wohnblöcke. Dazu kommen 86 Veloabstellplätze.

Man braucht kein Verkehrsexperte zu sein, um vorauszusehen, dass sich die jetzt schon prekäre Verkehrssituation noch massiv verschlechtern wird.  Auch weil die Ein- und Ausfahrt des Migros-Parkhauses noch näher zur Lichtsignalanlage an der Seestrasse verschoben wird. Warten vor dem Rotlicht nur schon mehr als vier Fahrzeuge, ist der Zugang zum Parkhaus blockiert, zumal die Strasse für eine Einspurstrecke von der Seestrasse her zu schmal ist.

An einer der unübersichtlichsten Stellen von ganz Erlenbach steht sich dann alles gegenseitig im Weg: die Fahrzeuge der jetzigen P+R-Anlage und den neuen Bewohner- und Besucherparkplätzen der SBB-Überbauung, der Kunden-, Bewohner- und Besucherverkehr der Migros-Überbauung, der Durchgangsverkehrs von der Drusberg-, Bahnhof- und Seestrasse, die wegfahrenden Autos der Denner-Kunden, die schwerfällig manöverierenden Lastwagen von Migros, Denner und Coop und die Fahrzeuge der lokalen Buslinien. Und dabei ist noch nicht einmal an die zahlreichen Fussgänger und Velofahrer gedacht, die sich auch noch irgendwie durch das ganze Tohuwabohu durchzwängen müssen. Kurz: das totale Verkehrschaos.

Ohne konkrete Pläne braucht es keine Planbeständigkeit

Zu den Hauptargumenten des Gemeinderates gegen die Aufhebung des Gestaltungsplans gehört die Rechtssicherheit und das Vertrauen in die sogenannte Planbeständigkeit: Die Grundeigentümer sollen sich darauf verlassen können, dass der Gestaltungsplan im Verlauf einer Projektierung nicht verändert wird. Bloss: Mit Ausnahm des SBB-Riegels liegen nach Auskunft der Gemeinde  gar keine konkreten Projekte vor. Wo es keine konkreten Bauvorhaben gibt, braucht es aber auch keine Planbeständigkeit. Und: Natürlich hat die Entwicklung eines ganzen Dorfzentrums Vorrang vor den Partikulärinteressen eines einzigen Grundeigentümers. Selbst dann, wenn die SBB Immobilien AG Kosten für die vergebliche Planung geltend machen würde, wäre es immerhin vernünftig ausgegebenes Geld, sozusagen eine gute Zukunftsinvestition, welche die reichste Gemeinde der Kantons sich durchaus leisten könnte. Zu erwarten ist aber eher ein»gütlicher Kompromiss», zumal das Planungsbüro Suter/von Känel/Wild, das seit weit über zehn Jahren für alle Planungsarbeiten der Gemeinde zuständig ist, ganz per Zufall auch im Dienst der SBB Immobilien AG steht.

Unzutreffend ist auch die Behauptung des Gemeinderates, dass sich – auch das gemäss Raumplanungsgesetz eine Voraussetzung für die Änderung eines Zonenplans -,  dass sich die Verhältnisse seit der Inkraftsetzung (also seit 2012) gar nicht erheblich  geändert haben. Geändert hat sich aber sehr wohl etwas ganz Entscheidendes, nämlich die  Einsicht, dass sich die angestrebten Ziele einer massvollen dörflichen Entwicklung mit dem geltenden Gestaltungsplan gar nicht erreichen lassen, sondern das Gegenteil bewirken. Es kann nicht Sinn eines Planes sein, Entwicklungen voranzutreiben, von denen man schon jetzt weiss, dass sie mit Sicherheit in die Irre führen.

Wird die Initiative am 19. November  angenommen, hat der Gemeinderat ein Jahr Zeit, um einen detaillierten Umsetzungsplan auszuarbeiten und der Gemeindeversammlung vorzulegen. Dieser umfasst neben den Bauvorschriften auch  Anpassungen des kommunalen Verkehrsplans und die «Bereitstellung öffentlicher und privater Parkplätze». Das trifft sich gut, denn zu den Legislaturzielen des Gemeinderates gehört auch die Revision der ganzen Bau- und Zonenordnung ( BZO). Wird der Gestaltungsplan Bahnhofstrasse aufgehoben, bietet sich die die Möglichkeit, alle diese Probleme in einem grösseren Zusammenhang anzupacken, zu diskutieren und zur Abstimmung zu bringen.

Christian Rentsch

Deshalb stimmen wir für die Initiative,

für die Aufhebung des öffentlichen Gestaltungsplans

für ein lebendiges, wohnliches Dorfzentrum,

wo man sich trifft und zu Hause fühlt.